Die Geschichte einer Gründung

Die Kleinen Schwestern vom Lamm, Dominikanerinnen, wurden vor 27 Jahren gegründet und die Kleinen Brüder vor 20 Jahren. Aber diese Gründung hat natürlich eine „Vorgeschichte“, die uns die Folge verstehen lässt. Wir müssen auf das Jahr 1968 und die darauf folgenden Jahre zurückschauen

Paris 1968

Wir sind in Paris einige Kleine Schwestern der römischen Kongregation des Heiligen Dominikus im Herzen des „Quartier Latin“stationiert, dem Viertel des Odeons. Es herrscht die sogenannte Kulturrevolution, ein stürmischer Wind weht und hinterlässt Chaos und Unordnung. Marx und Hegel werden für viele zu den Meistern des Denkens. Es trifft die kirchlichen Gemeinschaften und eine Anzahl Priester und Ordensleute verlassen das Priestertum und das Ordensleben. Auf die Terrasse unserer kleinen Gemeinschaft, die ein Studentenheim beherbergt, fliegen einige Pflastersteine. Aber nichts kann uns von der Liebe Jesu trennen, die in unseren Herzen wächst. Die gelebte brüderliche Liebe und der Hauch des Heiligen Geistes sind stärker. Wir hängen ein Schild ins Kapellenfenster, so dass alle Passanten lesen können: „Kapelle geöffnet“.

Einige junge Akademiker kommen zu uns. Mir war die ganz besondere Gnade geschenkt, die Kirchenväter an der Sorbonne mit einer Gruppe christlicher Professoren zu studieren, die im Sturm aufrechtstehen blieben und die der stärkste Wind nicht ins Schwanken bringen konnte. Einmal ruft in einem Hörsaal eine Studentin: „Wer hat das verloren?“ Ich erkenne meinen Rosenkranz und gebe mich, mit meinem Dominikanerhabit bekleidet, als sein Besitzer zu erkennen. Von diesem Tag an kommt eine große Zahl Studenten zu unserer Gemeinschaft.

Die Gruppe, die zur Liturgie kommt, wird immer größer. Wir schöpfen gemeinsam an den Quellen des Ostens und des Westens, betrachten lange die Ikonen der Dreifaltigkeit, der Jungfrau Maria und die Christus-Ikonen, lesen die Summa des Heiligen Thomas von Aquin und vor allem das Evangelium.

Einige junge Dominikaner-Brüder, denen es genauso geht wie uns, schließen sich uns an. Sie sind auch junge Patrologen und lieben die Kirche, Jesus Christus und sein Evangelium. „Wir hielten an der Lehre der Apostel fest, am Brechen des Brotes und an den Gebeten.“ (vgl. Apostelgeschichte 2,42) Im Gebet kam immer wieder ein Wort: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du das vor den Weisen und Klugen verborgen und es den Unmündigen (den Kleinen) offenbart hast.“ (Matthäus 11,25). „Die Kleinsten“ – wir mussten uns diesem großen Segen Jesu hingeben und uns vom Hauch des Heiligen Geistes, der Lob und Trost ist, ins Innerste des dreifaltigen Lebensmitreißen lassen und unaufhörlich der seligen und lebensspendenden Dreifaltigkeit singen:

O selige Dreifaltigkeit, ewige Quelle des Lebens, durch deine Gegenwart heilige uns, damit wir immer deine Herrlichkeit besingen!

So erfahren wir, dass die wahre Revolution in der Tiefe der Herzen stattfindet. Wir mussten das Evangelium Jesu leben. Die Kirchenväter waren unsere Meister: Ambrosius von Mailand und Augustinus, Cassian, Sophronius von Jerusalem und Maximus der Bekenner, der Heilige Thomas von Aquin, von Père Hubert nähergebracht. So viele bekannte Namen. Unsere Absicht war es, die kirchliche Tradition in der Neuheit „des Heute Gottes“ im Herzen der Kirche im Hauch des Zweiten Vatikanischen Konzils, aufzunehmen. Unter den damaligen Umständen war das eine Revolution!

Auch mitten in diesen Unruhen hört der Herr nicht auf, seine Kirche auf den Felsen der Freundschaft zu bauen und lässt uns in einer tiefen brüderlichen Eintracht leben. Zu dieser Zeit treffen wir zum ersten Mal Pater Christoph Schönborn o.p., der heute Erzbischof Kardinal von Wien in Österreich ist. Damals konnten wir uns das nicht vorstellen. Er ist heute auch der Vater der Gemeinschaft! Seine Bischofsdevise ist übrigens: „Ich habe euch Freunde genannt!“ (Johannes15,15)

Im Licht der Kirchenväter betrachten wir das Wort Gottes, als Schüler unseres Vaters Dominikus, der diese Übung vom Mönch Cassian übernommenhatte. Wir lernen das Evangelium auswendig, wir lernen es mit dem Herzen auswendig, und wie es in der Schrift steht: wir „essen“es, wir „mandukieren“ es. Ihr könnt es beim Propheten Ezechiel nachlesen: „Iss dieses Buch“ (vgl. Ezechiel 3,1), und in der Offenbarungdes Johannes ist der Ausdruck noch genauer: „Verschling das Buch“ (vgl. Offenbarung 10,9).

Jeden Tag haben wir uns im Licht des Evangeliums die Frage gestellt – und wir machen es noch heute: „Wer ist Gott? Wer ist der Mensch?“ Wer kann uns diese Frage besser beantworten als Jesus Christus und das heilige Evangelium? Aus unseren Herzen strömte das Leben hervor, das wahre Leben, das, indem es liebt, das Leben schenkt, und im Geheimen siegte es über den herrschenden Nihilismus. Jesus, der gütig und von Herzen demütig ist, führte uns auf Wegen des Friedens, die die damalige Gewalt nicht angreifen konnte. So wurde unser Leben täglich marianischer: In gewohnter Weise beteten wir den Rosenkranz, eine Devotion, die Dominikus besonders liebte. Aber die Mandukation des Evangeliums vereinte uns mit der Jungfrau Maria, wie sie uns vom Evangelium gezeigt wird: „Maria aber bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen.“ (vgl. Lukas 2,19). Diese kleine Gruppe von Studenten, Akademikern und Dominikanerbrüdern bleibt eng um Maria herum versammelt. Unser Gebet wird von einem neuen Eifer belebt und die Bande der Freundschaft vertiefen sich durch die Betrachtung des Geheimnisses Gottes.

Als wir keinen Wein mehr hatten, wurde uns der beste umsonst geschenkt. Das Weizenkorn, das in die Erde fiel, war tot, und die Ideologen feierten ihren Sieg. Aber sie wussten nicht, dass das Weizenkorn, das in die Erde fällt und stirbt, reiche Frucht bringt (vgl. Johannes 12,24).

Und so geschahes, dass das Leben im Heiligen Geist auch in anderen Gruppen hervorströmte und neue Gemeinschaften gebar. In der Kirche kündigte sich ein wahrer Frühling an. Der Geist Gottes wehte über die Glut eines Feuers, das zu erlöschen schien und ein neues Feuer entzündete sich auf geheimnisvolle Weise im Herzen aller Glaubenden. Das Licht, das die Finsternis nicht erfassen kann (vgl. Johannes 1,5), war in allen Herzen und eine göttliche und heilige Salbung heilte unsere Verletzungen. Ja, Jesus ist wahrhaft der Retter und der Herr. Er gibt uns seinen Geist und die Kirche ist unsere Mutter und unser zu Hause.

Es schien, als ob die Revolution von Mai 1968 beim Vorübergehen alles mitreißen wollte, aber, wie wir gesagt haben, ist ihr das Zweite Vatikanische Konzil im Herzen der Kirche vorausgegangen, eine Revolution, wenn man so sagen kann, die auf die Liebe Gottes und die Liebe aller Menschen gegründet ist. Das Konzil hatte der Welt gerade eine durch den Geist des Herrn erneuerte Kirche gegeben. Die Liturgie des Konzils ließ uns im Takt des Herzens Gottes und seiner Liebe zu den Menschen leben. Wenn wir mit Maria das Evangelium im Herzen bewahren, es in der Liebe zu Gott und zum Nächsten leben, es das Gebet nährt, dann ist es ein siegreicher Widerstand gegen alle Unordnung und alles Böse. So wird im Herzen der Kirche die Zivilisation der Liebe geboren. „Mächtige Wasser können die Liebe nicht löschen, auch Ströme schwemmen sie nicht hinweg.“ (vgl. Hohelied 8,7)

Der Heilige Dominikus und… Dominik, das arme „Kind“ in der Nacht

Während der Anbetungsnächte ist der Schrei unseres Vaters Dominikus im Gebet zu unserem Schrei geworden: „Meine Barmherzigkeit, was soll aus den Sündern werden?“ Und wir fügen hinzu: „von denen wir die ersten sind.“ Der Heilige Dominikus hat in seinem Gebet unaufhörlich gesagt: „Ich bin es, der sündigt!“

„Meine Barmherzigkeit, was soll aus den Sündern werden?“ Dieser Schrei unseres Vaters Dominikus, der in seinen Gebetsnächten ertönt und tagsüber sein Herz packt, diesen flehenden Schrei nimmt er im Herzen der Dreifaltigkeit wahr: Gott, der Vater, der Menschenfreund, wendet sich an den Sohn und fragt ihn: „Meine Barmherzigkeit, (vollkommener Ausdruck meiner barmherzigen Liebe) was soll aus den Sündern werden?“ Und der Sohn antwortet, wie uns die Schrift sagt:

„Ja, ich komme! Hier bin ich! Sende mich!“ (vgl. Psalm 40,8; Hebräer 10,7)

Saint Dominique
Heiliger Dominikus

Ganz eins mit dieser erschütterndenBarmherzigkeit rüstet sich Dominikus für die Mission. Indem wir uns seiner Fürsprache anvertrauen, brechen wir, von Jesus und seinem Evangelium gesandt, auf.

In der Nacht gehe ich mit einigen Studenten in die „schwierigen Viertel“, wo jene sind, die „in der Finsternis sitzen“ (vgl. Lukas 1,79). Hier begegnen wir den verlorensten jungen Menschen, armen Menschen. Das Gesicht von Dominik – genau dieser Name – werde ich nie vergessen. Ein „Kind“, vielleicht sechzehn Jahre alt. Sein Gesicht hat sich in mir eingeprägt. Es war der Beginn der Drogen in Paris. Dominique spritzte sich Heroin. Auf seinem Gesicht war schon der Tod zu sehen.

An jenem Tag begann ich zu ahnen, dass die Ohnmacht, die man spürt, wenn man bei den Armen ist und die Angst, die uns oft quält, der Liebe Platz machten, die unser armes Herz nicht produzieren kann, einer Liebe, die ich bisher nicht kannte. Ja, in unserem Herzen schlägt ein anderes Herz, das Herz Jesu, der den Armen liebt und ihn rettet, indem er ganz eins wird mit ihm, ganz eins mit mir. Ja, die Barmherzigkeit, die uns zu den Armen sendet, ist eine Liebe, die stärker ist als der Tod.

Aus dem Innersten dieser Finsternis, inmitten so vieler leidender Gesichter, taucht das „Heilige Antlitz“ Jesu auf, indem es dieses Licht der Liebe ausstrahlt, das die Finsternis nicht auslöschen kann. Der „Göttliche Bettler“ bat um unseren Glauben, um unsere Liebe und um unsere Anbetung, damit die Zärtlichkeit des Vaters und der Trost des Geistes, die Macht der Auferstehung, die die Finsternis, das Böse und den Tod besiegt, die Nacht dieser Welt überschwemmen. Als man mir diese nächtlichen Missionen erlaubte, bat man mich nur um eine Sache: „Gib niemandem unsere Adresse!“. Aber ohne es zu merken, waren mir die Armen gefolgt und hatten unser Haus gefunden. Sie „stürmten“ unser Haus und füllten es schnell. Von jetzt an waren wir eng verbunden mit den Armen an der Tür und in unserem Haus und überall dort, wohin sie uns mitnahmen. Hier könnte man noch viele andere Geschichten erzählen. Von diesem Zeitpunkt an sind es die Armen, die uns den Weg zeigen. Es wird kein Zurück mehr geben.

Natürlich konnte das nicht lange gut gehen: das Heim für junge Studentinnen und der Empfang der Armen. Die örtlichen Gegebenheiten ließen beides unter einem Dach nicht zu und einige Familien waren besorgt. Wir übergeben das alles dem Herr und rufen gemeinsam den Heiligen Geist an. Durch den gemeinschaftlichen und betenden Austausch zeigt sich der nächste Schritt.

Diese erste sozusagen frontale aber freundliche Begegnung mit den Armen, der Beginn im Kampf gegen das Böse und den Tod, in der Finsternis und in der Nacht, eröffnet einen zweiten Aufruf: den Ruf zur Bekehrung, zum Glauben, an das Evangelium zu glauben, nur noch eins sein mit Jesus in seinem Leiden und seinem Kreuz, das über alles Böse und sogar den Tod siegreich ist. So heißt es, im Gebet am Fuße des Kreuzes zu verharren.

Vézelay 1974

Im August 1974 sind wir für Exerzitien in Vézelay am Fuße eines Hügels, in einer kleinen Einsiedelei der Franziskaner, der Cordelle. Im Jahre 1217 beherbergte dieser Ort einige der ersten Begleiter des Heiligen Franziskus von Assisi, unter anderem Bruder Pazifikus, um hier zu leben und das Evangelium zu predigen. Jetzt haben ihre Brüder die neun Kleinen Dominikaner-Schwestern aus Paris aufgenommen. Wir möchten an diesem Ort der Stille und des Lichtes, an dem das Evangelium besonders stark verwurzelt ist, auf das Wort Gottes hören. Der Franziskanerbruder Jean-Claude hält die Exerzitien. Das ist eine entscheidende Begegnung! Dieser Bruder von Franziskus hat die selbe Sehnsucht wie wir: das Gebet, die Leidenschaft für das Evangelium, den Wunsch, ganz eins zu sein mit Jesus, das Bedürfnis, wie Jesus den Armen die Frohe Botschaft zu verkünden.

Vielleicht haben Sie die schöne Geschichte, wie sich Franziskus und Dominikus einmal begegnet sind und sich umarmt haben, schon einmal gehört: Franziskus und Dominikus waren Arme Christi, Bettler. Jeder weiß, dass Franziskus sich mit der „Dame Armut“ vermählt hat, ja für alle ist er als der „poverello“ bekannt.1 Aber wem ist bekannt, dass Dominikus die Armut des Armen Christus nachgeahmt hat?2 Die Gnade dieser Begegnung erreichte sogar uns. Unsere Geschichte war von nun an von der Freundschaft geprägt, die unsere Väter Dominikus und Franziskus verband.

Während dieser Exerzitien kommt immer wieder eine Bitte auf, die alle anderen zusammenfasst: „Herr, schenke uns die unmögliche Armut deines Evangeliums!“ Am Ende der Exerzitien blieb nur noch das übrig. Wir konnten kein besseres Mittel finden, um in den Fußspuren des Heiligen Dominikus nach dem Evangelium zu leben. Wir hatten keine konkrete gemeinschaftliche Reflexion, kein geplantes Projekt, nichts. Nur eine große Hoffnung, erneut unser Leben zu geben. Gott wird es fügen.

Dann ist es Zeit sich zu zerstreuen, da jede Schwester einmal jährlich eine Zeit in der Einsamkeit verbringt. Zwei Kleine Schwestern sind noch für ein paar Stunden da und etwas geschieht: Ein Fanziskanerbruder, der sehr froh ist, die Schwestern noch anzutreffen, sagt fast wie im Scherz: „Wenn ihr arm leben wollt, könnt ihr in einem kleinen Haus im Dorf wohnen, dass euch jemand für ein paar Monate borgen würde!“

Als wir wieder in Paris sind, erkennt die ganze Gemeinschaft, in diesem vorgeschlagenen kleinen Haus, in Vézelay ein Zeichen und eine Antwort auf unser Gebet. Wir müssen dorthin. Auch die jungen Studenten erkennen darin auch ein Zeichen Gottes. Die Zeichen Gottes sind oft sehr klein und noch dazu wartet dort das Unbekannte auf uns – das sieht dem Herrn wirklich sehr ähnlich!

„Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde!“ (Genesis 12,1) „Geh, verkaufe, was du hast, gib es den Armen und du wirst einen Schatz im Himmel haben!“ (Markus 10,21)

Eine ältere Schwester und ich werden nach Vézelay gesandt. Die Provinzoberin, Schwester Jean-Paul o.p.,unterstreicht diese „Aussendung“ mit einem prophetischen Wort: „Um zu wissen, ob etwas vom Heiligen Geist kommt, muss man es machen!“ Wir gehen „ohne Gold noch Silber“, um im Gebet und in der Armut zu leben.

Es ist Anfang November 1974. Vézelay empfängt uns mit seiner Basilika, die jeden Morgen durchflutet ist vom Licht des Retters, „das aufstrahlende Licht aus der Höhe, das uns besuchen kommt.“ (vgl. Lukas 1,78) und die von der Anwesenheit der Heiligen Maria Magdalena bewohnt ist. Wir vertrauen all jene ihrer Fürsprache an, die wir in den vielen Nächten getroffen haben und beginnen nach ihrem Vorbild zu leben: dem Herrn zu Füßen sitzen und „seinen Worten zuhören“(vgl. Lukas 10,39), mit Maria, der Mutter Jesu, die „alles in ihrem Herzen bewahrte“.

Vézelay bedeutet auch Bruder Jean-Claude wiederzusehen. Zuerst war er geistlicher Vater, und wurde uns dann vom Herrn geschenkt, um später mit uns die Gemeinschaft vom Lamm zu gründen. Pater Christoph Schönborn und Bruder Jean-Claude erinnern sich an diese ersten Momente in Vézelay. Hören wir ihnen zu.

Bruder Jean-Claude erzählt: „Allerheiligen 1974, Vézelay, ein sehr kleines Haus, sehr arm. Hier hat Pater Christoph die eucharistische Gegenwart Kleiner Schwester Marie und Kleiner Schwester Réginald anvertraut. Es war der Beginn der Gemeinschaft vom Lamm, aber wir wussten es nicht. Die vorhergehenden Tage haben ein anderer Bruder, der Pfarrer in Vézelay war, und ich, dieses kleine Haus vorbereitet. Die Geschichte war im wachsen. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, um vom Geschenk Gottes nichts zu verlieren.

„Es ist der Herr!“ (Johannes 21,7) Der erste Tag. Jesus nimmt den Ort in Besitz. Er ist der einzige Meister, der Freund, der Bräutigam, das Lamm. Dieses Einsetzen des Allerheiligsten durch Pater Christoph ist der Ausgangspunkt, die Grundlage, der Sockel, der ursprüngliche Samen.Von nun an der einzige Anhaltspunkt.

„Ich nenne euch nicht mehr Knechte. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt.“ (Johannes 15,15) Die Freundschaft vereint uns – Marie und ihre Schwestern, Pater Christoph, die zwei Franziskaner –und wir hören nie auf, immer wieder die Wunder des Wortes „Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe“(vgl. Johannes13,34) zu entdecken, das uns am Anfang so klar gezeigt wurde.

Ein Haus des Gebetes, mitten im Dorf, weit weg von der großen Stadt, aber mitten unter den Menschen. Die Leute nennen es sogar Einsiedelei Sankt Dominikus, und tatsächlich hat Kleine Schwester Marie dort neun Monate allein gewohnt. Es war ein Rückzugsort, in Einsamkeit, um den Herrn zu loben, Fürbitte zu halten, in Einsamkeit zu beten, mit der an Bedeutung gewinnenden Liturgie, dem Studium, und um das Wort Gottes zu bewahren und weiterzugeben.

„Selig die Armen“ (Matthäus 5,3). Es war wirklich ein ärmliches Haus. Es spiegelte von ganz alleine die erste Seligpreisung wieder. Gemeinsam beteten wir: „Herr, schenke uns die unmögliche Armut deines Evangeliums!“ Und so ist es unvermeidbar, dass ein wenig später, aus diesem Geheimnis der Armut des Evangeliums, das Betteln und das itinerante Leben aufblühen.

„Ich bin immer noch erstaunt“,sagt Pater Christoph, „dass ich Zeuge dieser ersten Stunden sein durfte und euch nach Vézelay begleitete, dort die erste Eucharistie feierte und so den Kleinen Schwestern Réginald und Marie die Gegenwart Jesu ließ, damit sie ihn in diesem kleinen und sehr armen Haus, anbeten konnten. So wie unser Vater Dominikus es liebte. Es war das Evangelium der Seligpreisungen (Matthäus 5,1-12). In meiner Predigt habe ich, wie sich alle daran erinnern können, über dieses Wort gesprochen. Es war der 1. November 1974, das Fest Allerheiligen. Ich erinnere mich, was meine Mutter sagte -die mich an jenem Tag begleitete – als wir unsere zwei Kleinen Schwestern verließen, die mit Jesus dort „bleiben“ mussten: „Du lässt sie hier? In dieser Armut?!“ Aber ich glaubte, und die Schwestern auch, dass sie „glückselig“ waren. Glückselig mit dieser Freude, die einem niemand nehmen kann, wenn man entdeckt, dass es möglich ist für Jesus alles zu verlassen, und dass es der Herr in unserem Leben macht.“

Unsere zwei Kleinen Schwestern bleiben zwei Monate gemeinsam. Dann bittet die Gemeinschaft in Paris um Hilfe und Kleine Schwester Réginald soll zurückkommen. Für Kleine Schwester Marie beginnt das Leben in der „Einsiedelei Sankt Dominikus“.

Neun Monate „Einsiedelei“

Eine Zeit für das Gebet in der Einsamkeit, den Empfang der jungen Stundeten und vieler Armer, eine Zeit, in der das Lamm uns in seine Nachfolge ruft.

Zurück zum Ursprung im Hauch vom Zweiten Vatikanischen Konzil

Zur selben Zeit bittet man mich, die lateinischen Texte zu studieren, die das Charisma des Predigerordens in ihrer ursprünglichsten Form wiedergeben. So werden wir eingeladen zum „Ursprung der Gründer“ zurückzukehren, wie es das Zweite Vatikanische Konzil erbittet. Es ist eine überwältigende Gnade, diesen Zufall zu erleben, zwischen der gerade gemachten Erfahrung eines Lebens ganz aus der Vorsehung und dem, was die Texte zeigen.

Das Charisma des Heiligen Dominikus enthüllt sich in einer ergreifenden Kurzfassung: Das Evangelium predigen, indem man ganz eins ist mit dem leidenden Gottesknecht, „die Armut des armen Christus nachahmend“ Bettler werden im Alltag, um die bettelnde Liebe Gottes zu offenbaren, der so weitgeht, sogar sein Leben als Opfer hinzugeben.Mit einem Wort:Zum Bettler werden, um der Welt das Lamm Gottes zu offenbaren: „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Johannes 1,29), alles Böse der Welt.

Diese Texte zeigten die Erfahrung unseres Vaters Dominikus, die er machte, als er nachts betete. Er betrachtet das Leiden unseres Herrn Jesus Christus: Das durchbohrte Herz Jesu lässtdie bettelnde Liebe des Vaters sehen, der auf das verlorene Schaf wartet, das der Sohn am Suchen ist, Er,der Gesandte der Barmherzigkeit. Dieses Licht der bettelnden Liebe verklärt von Stunde zu Stunde unseren Vater Dominikus, als Abbild des leidenden Gottesknechtes, dessen Züge er annimmt. Arm und bettelnd verkündet er überall den armen und verachteten Christus.

Gott hat uns in seiner Vorsehung anhand kleiner Ereignisse geführt, in den Spuren Dominikus, in der Nachfolge Jesu. Diese Texte erleuchteten die Gnade, die Gott uns jeden Tag schenkte,und sie zu betrachten, war eine schlichte Danksagung. Alles, was wir gerade erlebten, wurde erhellt: Wir hatten das Leben nach dem Evangelium erhalten, so wie Dominikus es wollte, ein einfaches Leben, das nach Ursprung und lebendigem Wasser schmeckt.

Und wie immer schreibt sich die Gnade Gottes im demütigen Alltagsleben ein.

Eine Gemeinschaft im Herzen der Kirche: 1982-1983

Sehr schnell kommen andere Schwestern und dann auch junge Frauen zu den ersten drei Kleinen Schwestern dazu. 1982 sagt mir die Mutter Oberin unserer Kongregation: „Was du trägst ist etwas Neues. Du musst den Mut haben neu zu gründen.“ Dabei geht es um die Geburt einer neuen Gemeinschaft in der dominikanischen Familie. Wir müssen sie in der Kirche gründen. Aber welcher Bischof wird diese winzige Herde, die gerade geboren wird, unter seinen Hirtenstab nehmen? Wir müssen ihn von der Muttergottes erbitten. Also machen wir, Kleine Schwester Marie-Noëlle und ich, uns als Pilger auf den Weg nach Lourdes, um von der Muttergottes einen Bischof zu erbetteln, der für uns „ein Vater, ein Bruder und ein Freund“ sei.

Nach einigen Tagen erreichen wir die Stadt am Fest Unserer Lieben Frau von Lourdes, dem 11. Februar 1982. Wir steuern auf die Grotte zu, als wir plötzlich ein Auto hupen hören. Ein alter Freund, der in der Gegend wohnt, steigt aus dem Auto und ruft: „Was macht ihr hier?“ Wir erzählen ihm kurz alles. Er antwortet: „Ich weiß, welchen Bischofihr sucht. Wegen euch bin ich also nach Lourdes gekommen. Heute Morgen hat mich etwas sprichwörtlich hinter mein Lenkrad geschoben und in meinem Herzenhörte ich unaufhörlich: ‚Der Père Jean in Lourdes!‘ Ja, für euch. Es ist Père Jean Chabbert, Erzbischof von Rabat in Marokko!“

Tatsächlich hatten wir diesen Bischof vor einem Jahr beim Eucharistischen Kongress in Lourdes kennengelernt. Wir hatten ihm erzählt, wie wir leben und wir sprachen dabei aus der Überfülle des Herzens. Aber Marokko? Für eine Gründung in der Kirche? So einen Anfang konnten wir uns nicht vorstellen. Unser Freund sagt uns, dass Père Jean Chabbert nach Frankreich zurückkommt und schlägt vor, dass wir ihn im Bischofshaus in Rabat anrufen. Heute noch, gleich jetzt. Wenn er selbst das Telefon abhebt, ist das ein Zeichen. Wir rufen an. Am anderen Ende hebt Père Jean ab. Und sobald er zurück ist, möchte er gerne die kleine Gemeinschaft in seiner neuen Diözese aufnehmen.

Als wir später an diesen 11. Februar 1982 zurückdenken, erzählt uns Père Jean, dass er die Muttergottes um die Gnade gebeten hatte, im Gebet den ganzen Tag bei der Grotte in Lourdes zu sein. Einige Monate später kommt die offizielle Ernennung: Monsignore Jean Chabbert wird nach Perpignan geschickt.

Am 28. Jänner 1983, dem Fest des Heiligen Thomas von Aquin, treffen wir, zwölf Kleine Schwestern, in Perpignan ein. Wir bekommen ein Haus in der Joseph-Denis-Straße 33, im Viertel Saint-Jacques, das ein armes Viertel ist, mit Zigeunerfamilien und Familien aus Nordafrika, nur ein paar Schritte vom Bischofshaus entfernt. „Zwei Zuschauer“ sind schon da, um halboffiziellan der Gründung teilzunehmen. Sie sind das Vorzeichen der Kleinen Brüder vom Lamm.

Am 6. Februar 1983 wird die Gemeinschaft vom Lamm im Herzen der Kirche von Monsignore Jean Chabbert, Erzbischof von Perpignan, errichtet. Am 16. Juli des gleichen Jahres, am Fest „Unserer Lieben Frau vom Berge Karmel“, wird die Gemeinschaft von Pater Vincent de Couesnongle, dem Ordensmeister, als „ein neu entstehenderZweig am Baum desPredigerordens“ anerkannt. Er schreibt uns: „Nachdem man unter Brüdern und Schwestern gerne seine Schätze teilt, lege ich hiermit fest, dass Ihr an allen Verdiensten des Ordens teilhabt, der sich, wie Dominikus zu Zeiten von Prouilhe, schon durch Euer Gebet und Euer Lebenszeugnis bereichert fühlt. Ich segne Euch in dieser Gemeinschaft im Namen des Heiligen Dominikus, im Blick Unserer Lieben Frau vom Berge Karmel.“

Am 8. August 1990, Fest des Heiligen Dominikus, werden die Kleinen Brüder offiziell wiederum von Père Jean im Herzen der Kirche aufgenommen. Und am 22. November 1999 werden sie von Bruder Timothy Radcliffe o.p., Ordensmeister, als „der dominikanischen Familie angehörend“ anerkannt. Sein Nachfolger, Bruder Carlos Aspiroz o.p., bestätigt diese Aufnahme zwei Jahre später.

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1 Vgl. Urtexte des Dominikanerordens, vor allem die päpstlichen Bullen über die Bestätigung des Ordens.

2 Die Historiker können heutzutage nachweisen, wie wichtig es dem Heiligen Dominikus war, sein eigenes Charisma in die Tat umzusetzen.

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